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Bernard DENIS, France
Honorary Professor, National Veterinary School, Nantes
Ex-member of the FCI Scientific Commission
Translation: J. Mulholland
FOLGEN DER DOMESTIZIERUNG FÜR DIE TIERE
Die Domestizierung hat für Tiere äußerst weitreichende Folgen, die sich auf die
Bereiche Morphologie, Anatomie, Physiologie, Psychologie und genetische Struktur
konzentrieren. Die eigentliche Domestizierung löst diese Änderungen nur aus, während
sich die Ausprägung zu einem Großteil erst wesentlich später vollzieht, wenn sich
der Einfluss des Menschen allmählich verstärkt. Dessen ungeachtet ist es üblich,
die Änderungen in ihrer Gesamtheit zu betrachten. Einige dieser Auswirkungen werden
im Folgenden erörtert.
Morphologische, anatomische und physiologische Folgen
Domestizierte und wilde Tiere unterscheiden sich stark im Hinblick auf ihre Form.
Zu Beginn der Domestizierung verringerten sich Größe und Gewicht, während der Knochenbau
feiner wurde. Archäologen nutzen diese Merkmale, um die Gebeine wilder und domestizierter
Tiere voneinander zu unterscheiden4. Im weiteren Verlauf verringerte
oder erhöhte sich die Größe nach Maßgabe von Selektion und Futterqualität. Die Schwankungsspanne
ist beträchtlich und reicht beim Hund heutzutage von 600 g bis über 150 kg. Auch
Profil und Proportionen variieren erheblich: Nahezu alle Varianten sind in der Spanne
zwischen der englischen Bulldogge und dem Whippet zu finden.
Auch die Farbe des Fells variiert stark: Während wilde Tiere generell nur ein einfarbiges
Fell aufweisen, ist unter domestizierten Rassen Vielfalt die Regel. Durch Mutationen
entstehen zunächst neue Farben, die jedoch aufgrund der natürlichen Selektion wieder
verschwinden, weil insbesondere die Artgenossen die Mutanten nicht mehr erkennen.
Entsprechend ist bisweilen zu beobachten, dass Eltern ihr Junges töten oder die
Fortpflanzung aussetzt, weil das andersartige Fell eine sexuelle Blockade auslöst.
In Gefangenschaft erfolgt die natürliche Selektion geordneter: Der Mensch sucht
sich für die Fortpflanzung die gegenüber ihm und den Artgenossen geselligsten Tiere
aus und kann bestimmte Mutanten gegebenenfalls beschützen und zur Fortpflanzung
veranlassen. Im Gegenzug können neue Farben fortbestehen und sich weiterentwickeln.
Ein besonders interessantes Beispiel einer Selektion war in Sibirien zu beobachten:
Dort wurden Silberfüchse aufgrund ihres Fells in Gefangenschaft gehalten und gezüchtet.
Während die ersten Tiere völlig identisch mit ihren wilden Artgenossen waren, entstanden
später – als die Tiere für die Fortpflanzung anhand ihrer Geselligkeit ausgewählt
wurden – Mutanten mit anderen Farben (insbesondere mit weißer Fleckenmusterung),
die dieses Merkmal problemlos weitergeben konnten. Gleiches galt für andere morphologische
Besonderheiten (wie die Schwanzhaltung).5
In anatomischer Hinsicht sind typische Änderungen im Gehirn festzustellen. Gegenüber
ihren wilden Artgenossen besitzen domestizierte Tiere häufig ein in punkto Gewicht
und Volumen kleineres Gehirn. Häufig wird auch der Verdauungsapparat zitiert, der
länger wird, derweil domestizierte Fleischfresser zu einem unterentwickelten Kiefer
neigen. Physiologisch betrachtet sei lediglich auf die bessere Fortpflanzungsfähigkeit
verwiesen, d.h. frühere Geschlechtsreife, erhöhte Fruchtbarkeit, längere Erhaltung
der Fortpflanzungsfähigkeit usw.
Psychologische Folgen
Die psychologischen Folgen sind beträchtlich und werden mit dem Begriff „Neotenie“
umschrieben. Bei ihren Beziehungen zum Mensch behalten domestizierte Tiere infantile
Verhaltensweisen, die typisch sind für die Beziehung zwischen Mutter und Kind und
zwischen Jungtieren. Erklären lässt sich dies dadurch, dass der Züchter – der mit
den Tieren bereits im frühen Entwicklungsstadium zusammen ist – nach und nach die
Rolle der Mutter als Nahrungsbeschaffer übernimmt und zu dem wird, was Verhaltensforscher
als „Übermutter“ bezeichnen.
Auch wenn es nicht immer einfach ist, infantile Verhaltensweisen zu identifizieren,
sind bei domestizierten Fleischfressern zwei Paradebeispiele zu beobachten: das
Schnurren der Katze und das Spielen des Hundes mit seinem Herrchen.
4 : Entsprechend wird geschätzt, dass der Widerrist der ersten Hunde
kaum über 50 cm maß.
5 : BELYAEV, D.K., „Destabilizing selection as a factor in domestication“,
Journal of Heredity, 1979, 70, 301-308.